Guter Rat … teuer ?! “Agile… Scrum… & Co.“-Zertifizierungen
Auf meine jeweilige Nachfrage hin erhalte ich vermehrt die Antwort, dass es leider weniger um Inhalte und Qualität, sondern um die “Auszeichnung” geht, die bei so manchem ganz profan den Lebenslauf schmücken und den nächsten Schritt auf der Karriereleiter ermöglichen soll. Menschlich.
Eine Vertiefung der Themen, Kompetenzentwicklung oder z.B. „Agile als Haltung“ ? Nicht vordergründig erwünscht ! Ebenso menschlich.
Dies bedient (und fördert) der Massenmarkt für “Agile… Scrum… etc.”-Einfach-Zertifikate – natürlich. Das Kurs-Angebot ist vielfältig, bunt und rasant wachsend.
Und unter den Kennern immer mehr umstritten !
Für einige Anbieter ist dieser Markt eine Goldgrube,
eine “Lizenz zum Gelddrucken”.
(M)eine aktuellen Erfahrungen
„Aktuell“ erstreckt sich in meinem Fall von der zurückliegenden Zeit kurz vor der Jahr-2000-Wende (meine ersten Gehversuche in Sachen eXtreme Programming, Agile, Scrum, …) bis heute.
Werbeversprechen „Ausbildung“
Das liegt zum Beispiel an den Werbeversprechen einiger Anbieter, in denen sie “Ausbildungen zum zertifizierten Agile… Scrum…-Irgendwas” verkaufen, die zum einen dem Begriff “Ausbildung” nicht gerecht werden.
Dort werden zum Teil Zwei-Tageskurse als Ausbildung deklariert! #think
Manchmal hört man im Nachgang von den Teilnehmern solche Aussagen wie “…das war wie eine Infoveranstaltung… aber ich bin nun ein zertifizierter Irgendwas…”. Manchmal finden sich dort über zwanzig, ja vierzig Teilnehmer ein, denen viele spannende Geschichten rund um Agile, Scrum & Co. erzählt werden. Ob das so vermittelte Wissen die Teilnehmer in Richtung eigenem Können befähigt, darf sich jeder selbst überlegen.
Zertifizierung oder Teilnahmebestätigung ?
Zum anderen sieht man Veranstaltungen, in denen die anschließende „Zertifizierung“ durch den Leiter mittels “Hand auflegen” oder durch einen “Ritterschlag” durchgeführt wird. Letztlich wird damit nur die Anwesenheit des Teilnehmers bestätigt (O-Ton “…Teilnahme an diesem Kurs zertifiziert…”).
Multiple-Choice und „Gruppenarbeit“
Dann wiederum gibt es Zertifizierungen, die über ein Onlineportal nur durch Beantwortung von z.B. Multiple-Choice-Fragen durchgeführt werden. Häufig ist dabei das Ausschlussprinzip sehr “hilfreich”, das den Prüfungskandidaten beim Suchen des Kreuzes die richtige Antwort finden lässt. Außerdem gibt es Prüfungen, in denen die Antworten für das Zertifikat im Team als “Gruppenarbeit” gemeinsam mit Kollegen, Helfern und “Frag Google !” zusammengestellt werden können.
Zertifikat nur mit teurem Kurs
Bei einigen Anbietern ist für eine Zertifizierung die Teilnahme an einem vorherigen Kurs verpflichtend. Sonst erhält man keinen Zugang zum Online-Prüfungsportal. Die Kosten für die Zertifizierungsprüfung verteuern sich damit um die Kursgebühren. Manchmal sind diese in die höheren Kursgebühren bereits eingerechnet.
„Ein Leben lang…“
Einige Zertifizierungen gelten “ein Leben lang”, ohne dass der so Ausgezeichnete sich jemals weiter mit dem Thema auseinandersetzen muss. Andere können im z.B. Zwei-Jahres-Rhythmus gegen Gebühr verlängert werden. Oft dummerweise ohne weitere Prüfung – und Aussagekraft über die Kompetenz des so Zertifizierten.
Kompetenz ?
Leider sagen viele Zertifikate nichts über die Themen-Kompetenz des Zertifikatinhabers aus.
Den teils mit Stolz erfüllten “zertifizierten” Kolleginnen und Kollegen ist oft gar kein oder nur bedingt ein Vorwurf zu machen. Sie werden von diesem Massenmarkt für Einfach-Zertifikate geködert – und bedient.
Dass sie nur mit einem solchen Wissen und bedingter Kompetenz – manchmal durchaus selbstbewusst: siehe → „Dunning-Kruger-Effekt“ – auf Projekte und Menschen losgelassen werden, darf einen schon zum Grübeln bringen. Dort werden letztlich nicht nur betroffene Menschen irritiert, vielleicht de-motiviert, sondern über die (negative) Hebelwirkung werden immer mehr Agile und Scrum-Projekte vor die Wand gefahren.
Agile… Scrum… etc. funktioniert nicht bzw. ist natürlich mal wieder schuld.
Auch davon ist meine Agile Notfall-Sprechstunde voll. Leider.
Wer das “System” kennt, für den ist es immer häufiger recht peinlich, sich auf diese Weise z.B. als “Zertifizierter Irgendwas” zu bezeichnen und in seinem Lebenslauf zu erwähnen.
Zumal immer mehr Bosse, Personaler, Recruiter oder Headhunter aufgrund der Herkunft eines Zertifikates dies inzwischen wissen. Falls genügend kritisch, können sie Aussagekraft und Qualität gut einschätzen bzw. relativieren.
Höhere Qualität ?
Noch zu selten nehme ich Ausbildungen und Zertifizierungen wahr, die höheren Qualitätsansprüchen und strengeren Prüfungsmaßstäben genügen.
Die Anzahl von Angeboten ist überschaubar, die hier wirklich als “Ausbildung” bezeichnet werden können und bei denen die einzelnen Kurse als aufeinander abgestimmte, aufbauende Bausteine einer Ausbildung dienen.
Wenige Zertifizierungsprüfungen werden z.B. nach Vorlage des Personalausweises unter Aufsicht eines Prüfers durchgeführt. Unter Aufsicht kann bedeuten, dass keine Hilfsmittel (“Gruppenarbeit”, „Frag Google !“, etc.) zugelassen sind und die Prüfung nach dem “closed book”-Prinzip erfolgt.
Qualitativ höherwertige Prüfungsverfahren, in denen beispielsweise Multiple-Choice-Fragebögen ohne Ausschlussprinzip oder Fragen im Freitext beantwortet werden müssen, sind ebenfalls noch rar.
Verpflichtende praktische und mündliche Prüfungen als Voraussetzung einer Zertifikatserteilung kommen kaum vor.
Ernsthaft ?!
Wer schnell, ohne großen Aufwand, seine Sammlung mit Einfach-Zertifikaten für seinen CV aufstocken möchte, für den hat der Massenmarkt viele Angebote parat.
Bei einigen Anbietern kann das Zertifikat preiswert ohne Kurs erworben werden. Manchmal ist die Prüfung mit Hilfsmitteln z.B. in “Gruppenarbeit” möglich. Bei anderen wird es durch den obligatorischen Kurs teuer.
Wer sich ernsthaft mit den Ausbildungsthemen auseinandersetzen und sich dies dann vielleicht optional zertifizieren lassen möchte, für den wird die Suche nach geeigneten Anbietern schon schwierig.
Just my 2 cents!
Welche Erfahrungen hast Du mit wirklichen Ausbildungen und aussagekräftigen Zertifizierungen gemacht? Wie ist Dein Eindruck? Schreib mir eine eMail… oder hinterlasse einfach Deinen Kommentar!
CU
@ Boeffi .net aktualisiert am 07.07.2019
Lieber Böffi,
nachvollziehbar sind mir Deine Gedanken, Erlebnisse und O-Töne im Bereich der agilen Zertifizierungsangebote.
Eine kleine Lernbiographie-Reise von mir dazu:
– Ich liebte es für mich und meine Bands Auftritte zu organisieren > da sprach ich aber nicht von Projekten
– In der ersten Hochschule sagten Sie uns, macht ein Team, ihr bearbeitet ein Multimedia-Projekt > sagten uns aber nicht wie
– In der zweiten Hochschule zeigten Sie uns Folien > lernt das für die Prüfung im Wintersemester
– Als ich zu forschen begann, gefühlt nur mich als Ressource im Projekt hatte, konnte ich mich nicht mehr an die Folien erinnern.
– Das erste Unternehmen wollte mich als Projektleiter haben > und wusste selbst gar nicht, wie es sich als Startup zu organisieren hatte.
– Da nahm ich die Sachen in die Hand und las das Buch „die Kraft von Scrum“ > doch mein Team war noch nicht an/am Board und es dauerte bis ich Post-Its erklärt hatte.
– Die Firmen wurden „professioneller“, hatten eine Projekt-Managementsoftware und ein Office > nur die C-Level Ebene wollte keine Geld für Qualifizierung und Prozessoptimierung ausgeben (es gab dafür keine Jahresboni)
– Eine andere Firma wollte „expandieren“, als ich aber technische Disruption erzeugte und der Firma zeigte, wie ineffizient ihre Produktentwicklung und Projekte waren > na wo denkt ihr hat mich da meine Bildungsreise hingeführt ???
– Zu einem Profi-Zertifikatskurs der GPM – IPMA > das war ein Augenöffner und brachte mir Projektmanagement mit Händen bei. Empfehlung! Machte mich aber wählerischer in der Suche nach „reifen Projekt-Organisatiosformen“ und Firmen, die das irgendwie noch nicht beherrschten.
LANGE Geschichte bisher … soll nicht was drauf packen?
– Ich nahm meine Projektmanagement-Bildung nun selber in die Hand, suchte mir Projekte, an denen ich mich herausfordern konnte > klassisch, hybrid, agil; in wechselnden Rollen (PO, Scrum, Projektmanager)
– Ein Ruf für einen Lehrauftrag kam > Zeig bitte unseren Studierenden, wie man Projekte macht (klassisch und agil *Love it
– Dann traf ich auf „Agile Köpfe“ in Köln (Scrumtisch, Agile Cologne, etc.) – Sparing auf Augenhöhe, mit Raum mit sich zu experimentieren, eigene Formen zu entwickeln. SHU > HA > RI? !!
Fazit?
Der individuelle Lernweg ist das Ziel. 🙂
FG
A. L.